Zersetzung meinte im Sprachgebrauch des Ministeriums für Staatssicherheit das verdeckte - also von den Betroffenen nicht auf das MfS zurückzuführende - Beeinflussen von Personen und Personengruppen mit dem Ziel, deren Handlungsfähigkeit, persönliche Integrität und ggf. Öffentlichkeitswirkung zu untergraben bzw. ganz zu unterbinden.
Da eine direkte und nachweisbare Verfolgung Andersdenkender nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki und angesichts verstärkter Bemühungen der DDR um Wirtschaftskontakte ins NSW politisch brisant wurde, traten in den 70er und 80er Jahren bei der Bekämpfung der Opposition und "feindlich-negativer" Elemente die Zersetzungsmaßnahmen zunehmend in den Vordergrund.
Dabei verzichtete das MfS auf die Verwendung mglw. vorhandener Beweismittel (Schriftstücke, Abhörprotokolle u.a.) und auf die Einleitung förmlicher Untersuchungsverfahren. Statt dessen zwang die Staatssicherheit die so bearbeiteten Menschen und Gruppen zur Untätigkeit, indem sie Widersprüche oder Differenzen ausnutzte bzw. hervorrief:
- unterschiedliche Vorstellungen (über Ziele, denkbare Aktionen u.ä.) forcierte;
- persönliche Beziehungen unter Gruppenmitgliedern zerstörte;
- Gerüchte und Intrigen streute oder förderte.
Die konkreten Maßnahmen der Zersetzung lagen dabei oft "unter der Gürtellinie"; die mit der Planung und Durchführung beauftragten hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter waren psychologisch geschult und auf das Aufspüren und Ausnutzen menschlicher Schwächen spezialisiert. Die Folgen der Zersetzung für die "Zielobjekte" (bearbeitete Menschen) konnten daher dramatisch sein.
Entgegen späterer Behauptungen der MfS-Verantwortlichen sind Fälle belegt, in denen es nach verleumderischen "Informationen" bzw. verdeckt gestreuten Anschuldigungen zum Selbstmord der Betroffenen kam: Z.B. der eines westdeutschen Unternehmers, den ein Stasi-IM über die 'fortgesetzte Untreue' seiner DDR-Freundin "informierte", woraufhin sich der Betroffene das Leben nahm (s.u.).
Die Planung der Zersetzung musste durch den Leiter der Stasi-Abteilung oder Hauptabteilung bestätigt werden; bei wichtigen Vorgängen oder prominenten Personen war sogar die Bestätigung des Ministers nötig. Eingebunden in die Durchführung waren außer den hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern oft auch andere staatliche Stellen (per Anweisung oder unter Legende) sowie Inoffizielle Mitarbeiter des MfS (meist IMB, siehe dort). Die Zersetzung konnte als Maßnahme innerhalb eines Operativen Vorgangs (OV) ? oder auch allein - d.h. außerhalb eines OV - eingesetzt werden. OV ? konnten auch mit erfolgreicher Zersetzung beendet werden: Das hieß dann, die bearbeiteten Personen oder -gruppen waren dauerhaft handlungsunfähig bzw. aufgelöst (entsprechend des Wortsinns von Zersetzung).
Grundsätzlich durfte die politisch-operative Methode Zersetzung nicht dekonspiriert werden. Die hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter mussten sicherstellen, dass den IM und anderen Beteiligten außerhalb des Ministeriums ihre Rolle bei der Zersetzung nicht einsichtig wurde und dass die Planung nicht durchschaut werden konnte. Nach der Wende und der Stasi-Auflösung erschienen der Öffentlichkeit und vielen Betroffenen die in den Akten dokumentierten perfiden Zersetzungspläne deshalb zunächst unfassbar: Die Skrupellosigkeit und die vom MfS verwendeten "Mittel und Methoden" überstiegen den Erfahrungshorizont der DDR-Bürger.
In einem Studienmaterial der MfS-"Hochschule" (JHS, Juristische Hochschule Potsdam) zur "Bearbeitung von OV ?" von 1985 fand sich folgende Einschätzung der Wirksamkeit von Zersetzung:
"Bei richtiger Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung treffen diese in der Regel den Gegner hart, nehmen ihm für längere Zeit die Initiative und legen große Teile seiner Verbindungen und Stützpunkte lahm. Damit wird zugleich erreicht, daß er für längere Zeit über die tatsächlichen Ursachen seiner Mißerfolge und Niederlagen in Unkenntnis bleibt. Die operativen Erfahrungen zeigen eindeutig: Der Gegner reagiert wesentlich unsicherer, langsamer und oft nur zögernd als auf offizielle Maßnahmen zur Bekämpfung staatsfeindlicher Tätigkeit. Bei der Analyse der Anwendung strafrechtlicher Sanktionen erhält er z.B. meist früher, umfassender und auch genauer Antwort auf diese für ihn wichtige Frage nach Ursache, Ausmaß und Konsequenzen seiner Niederlagen."
- Beispiel einer "erfolgreichen" Zersetzung mit Todesfolge: "Wolf, Kairo und Journalist", DER SPIEGEL Nr. 47/1995, S. 116ff. (S. 118)
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