Oberleutnant Werner Stiller (studierter Physiker), von 1972 bis 1979 tätig in der Abt. A XIII des Sektors Wissenschaft und Technik (SWT) der HVA, zuletzt Leiter des Referats 1 (physikalische Grundlagenforschung und Nukleartechnik), war selbstangebotener Spion des westdeutschen Bundesnachrichtendienstes (BND) ab Mai 1978. Interne Ermittlungen durch die Abwehr des MfS liefen seit August 1978.
Am 18. Januar 1979 flüchtete Stiller über den Bahnhof Berlin-Friedrichstraße nach Westberlin zum BND; er benutzte dazu blanko HVA-Papiere, mit denen er den U-Bahnsteig der westlichen Linie U6 erreichen konnte. Stiller nahm bei seiner Flucht angeblich 20.000 Dokumente auf Mikrofilm mit. Nach Aussage von Markus Wolf hatte Werner Stiller den Safe des Referatsleiters aufgebrochen, worin wesentliche Erkenntnisse und Unterlagen der Abteilung lagerten. Die Flucht wurde duch schwere Sicherheitsmängel der HV A begünstigt.
Die Freundin Werner Stillers wurde über die Botschaft der BRD in Polen in die BRD geschleust. Seine Ehefrau und Tochter blieben hingegen in der DDR zurück und waren dort ständigen Schikanen ausgesetzt. Im MfS entstand bei den folgenden Untersuchungen der OV ? "Schakal"; dieser Name wurde dort später generell für Stiller verwendet.
Die DDR-Auslandsaufklärung wurde durch das Überlaufen Stillers empfindlich geschädigt:
- 15 DDR-Agenten, größtenteils zuvor von Stiller als Führungsoffizier geführt, wurden in der BRD und Österreich noch am 19. Januar 1979 festgenommen. Zu Stillers offenbarten Quellen gehörten
- Reiner Fülle, Spion im Kernforschungszentrum Karlsruhe
- IM "Sturm", ein Computerkaufmann mit dem Nachnamen Arnold, der bei IBM Karriere gemacht hatte (erhielt 2,5 Jahre Haft für 19 Jahre Spionage)
- IM "Hauser" alias Günther Sänger, Ingenieur bei Siemens in Coburg
- Karl-Heinz Glocke, Personalsachbearbeiter bei RWE in Essen
- François Lachenal, PR-Berater bei Boehringer Ingelheim
- Alfred Bahr, tätig in der Abteilung Satellitenbau von MBB
- IM "Sperber" alias Rolf Dobbertin, Physiker am staatlichen Forschungsinstitut CNRS (Frankreich)
- IM "Fellow" alias Dr. Karl Hauffe, Institutsdirektor an der Uni Göttingen (zuvor für den KGB sowie für den BND (!) tätig, verurteilt zu einer Bewährungsstrafe).
Außerdem machte Stiller umfassende Angaben über die Technologie-Beschaffungslinie des SWT in Wien. (Quelle der Aufzählung: Erich Schmidt-Eenboom: Der Schattenkrieger. Klaus Kinkel und der BND, ECON Vlg. 1995; ISBN 3430180147 ; S. 191ff.)
- weitere ca. 40 Agenten konnten sich nach Warnung der "Zentrale" noch rechtzeitig in die DDR absetzen.
- Stiller identifizierte Markus Wolf auf einem Foto, das die schwedische Aufklärung am 01. Juli 1978 in Stockholm aufgenommen hatte - dadurch verfügten die westlichen Dienste über die erste aktuelle Aufnahme des "Mannes ohne Gesicht" seit 20 Jahren. Am 05. März 1979 veröffentlichte "DER SPIEGEL" dies als Titelgeschichte, lanciert über den BND.
- Stiller informierte BND und CIA ? insbesondere über den unerwartet großen Umfang der Wirtschafts- und Technologiespionage der DDR.
Der BND behauptete damals wahrheitswidrig, Stiller hätte schon lange Zeit als Maulwurf gearbeitet - offensichtlich um die "moralisch" schwer getroffene HVA weiter zu demütigen.
Von der CIA erhielt Stiller eine neue Identität als "Klaus-Peter Fischer". Er absolvierte ein BWL-Studium in St. Louis (Missouri) und war später als Investmentbanker in den USA tätig. 1986 veröffentlichte er sein Erinnerungsbuch "Im Zentrum der Spionage". Anfang der 1990er Jahre kehrte Werner Stiller nach Deutschland zurück. Er "outete" sich mit einem Fernsehauftritt in der SAT.1-Telebörse, allerdings ohne seinen wahren Namen zu erwähnen.
Einen ähnlichen Überlaufversuch plante wenig später der HVA-Hauptmann Werner Teske, setzte sie jedoch nicht in die Tat um. Diese Pläne wurden später entdeckt, und das Oberste Gericht ? verurteilte Teske in einem Geheimverfahren zum Tode.
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