Der Marxismus war im Verständnis der offiziellen politischen Ideologie der SED die Frühform bzw. der Vorläufer des Marxismus-Leninismus. Erst mit der auch kurz als Leninismus bezeichneten "Weiterentwicklung" Marxismus-Leninismus bildete der Marxismus die ideologische Grundlage der SED-Politik. Folglich ist es inkorrekt, den Marxismus als Staatsideologie der DDR zu bezeichnen.
Aus Sicht der SED-dominierten Geschichtsschreibung in der DDR gab es nach dem Tod von Friedrich Engels 1890, der - gewissermaßen als "Gralshüter" - nach Marx' Ableben dessen Werk weiterführte, Versuche von Opportunisten und Revisionisten, den Marxismus zu revidieren. Solche Revisionsversuche hätten den ursprünglichen Marxismus als revolutionäre Lehre vor allem in folgenden Punkten verfälscht:
- Idee des sozialen Friedens mit der Bougeoisie (statt unversöhnlichen Klassenkampfes)
- Ablehnung der sozialistischen Revolution
- Lossagung von der Diktatur des Proletariats
- sowie weitere Verfälschungen "der ökonomischen und philosophischen Lehre des Marxismus" (zitiert nach BI-Universallexikon in 5 Bänden, Bibliographisches Institut, Leipzig 1986, Bd. 3; siehe dort unter Marxismus-Leninismus)
Die Revisionisten und Opportunisten wurden vorrangig in den Teilen der Sozialdemokratie verortet, die damals (vor der Gründung des Spartakusbundes von Liebknecht und Luxemburg) als rechts bezeichnet wurden. Nach der Gründung der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, ein früher Vorläufer der KPdSU) und deren Spaltung unter Lenin waren es dessen Bolschewiki (sinngemäß "Mehrheit"), die den Menschewiki ("Minderheit") revisionistische Anschauungen vorhielten.
Die programmatisch großenteils "marxistisch" orientierten sozialistischen Parteien Westeuropas (z.B. in Frankreich, Spanien usw., ferner die SPD in der BRD), aber auch marxistische ideologische Strömungen in den kommunistischen Parteien (KP Frankreichs, KP Italiens) bildeten aus der Sicht der KPdSU und damit auch der SED revisionistische Abweichungen vom revolutionären Kern der Lehre von Karl Marx. Sie galten als "Spalter der Arbeiterklasse" und wurden wegen befürchteter aufweichender Einflüsse im Vergleich zu den eigentlichen Kapitalisten zeitweilig als die größere Gefahr betrachtet. Interessanterweise ist es dann später (in den 70er/80er Jahren) der linke Flügel der SPD gewesen, der sich zum Marxismus revisionistischer Lesart bekannte.
Der bloße oder "verfälschte" Marxismus war dementsprechend in der DDR verpönt, das Wort wurde tendenziell mit den erwähnten Eurokommunisten in Verbindung gebracht und hatte nur im historischen Kontext seine Berechtigung. In gesellschaftswissenschaftlichen Arbeiten und offiziellen Verlautbarungen der SED war daher stets nur vom Marxismus-Leninismus die Rede, wenn die ideologische Grundlage der Politik bzw. die "wissenschaftliche Weltanschauung" gemeint war.
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