Stalinismus

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Der Begriff Stalinismus war in der DDR verpönt und mit kleinen Ausnahmen zu Beginn der 60er Jahre bis zur Wende 1989/90 in Publikationen der SED praktisch nicht zu finden. Schon wegen Mangels an Substanz bildete der "Stalinismus" keine eigene ideologische Richtung, am ehesten eine auf Stalin zugeschnittene grobe Vereinfachung des Leninismus. Gleichwohl war Stalin in den Anfangsjahren der DDR allgegenwärtig, auch über seinen Tod 1953 hinaus, und die am sowjetischen Vorbild orientierten Herrschaftsstrukturen existierten weiter.

Nach Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU begann wegen der engen Bindung an die Sowjetunion auch in der DDR eine vorsichtige Entstalinisierung ?, die allerdings in der Anprangerung von Stalins Verbrechen nie ein ähnliches Ausmaß wie in der SU annahm. Wegen der personellen Kontinuität in der SED-Führung unter dem zuvor bedingungslos stalintreuen Walter Ulbricht hätte eine konsequente Abrechnung mit den "Fehlern" der 50er Jahre eine Gefahr für die Spitzenfunktionäre bedeutet.

Aufgrund der vielfältigen Auslegung und Verwendung des Begriffs Stalinismus nach der Wende und der Bezeichnung (mglw. Denunziation) verschiedenster Persönlichkeiten, größerer Personenkreise wie z.B. der gesamten SED oder auch der ganzen DDR als "stalinistisch" ist eine exakte Definition wünschenswert, jedoch außerordentlich schwer zu finden. Denn während der Existenz der SED-geführten DDR bis 1989 gab es keine eindeutige Sprachregelung; selbst die SED/PDS sagte sich auf ihrem Sonderparteitag Ende 1989 vom "Stalinismus" los, ohne ihn überhaupt zu definieren.


Versuch einer differenzierten Definition

1. "Stalinismus" aus DDR-Sicht

  • Fehlentwicklungen des Sozialismus unter Stalin
Die unter Ulbricht entstandene Formulierung, die in ähnlicher Form bis 1989 auch in Lexika, gesellschaftswissenschaftliche und übrige SED-Publikationen Einzug fand, war die allgemeine Floskel von den Fehlentwicklungen oder kurz Fehlern, begangen "von Stalin" oder unter seiner Verantwortung/Führung "beim Aufbau des Sozialismus" - "in der Sowjetunion". Chruschtschow selbst hatte u.a. von Deformationen gesprochen.

Diese Sprachregelung enthielt den Verweis auf die "spezifischen Schwierigkeiten" in der SU - nicht zuletzt den Großen Vaterländischen Krieg - und ermöglichte die weitere Distanzierung:

  1. Stalin hätte z.B. mangels Erfahrung oder infolge äußeren Drucks so gehandelt, ggf. sogar so handeln müssen. Im "umgangssprachlichen" Gebrauch nicht nur der SED-Spitzenfunktionäre, am bekanntesten wohl von Mielke, hieß das sinngemäß: "Wo gehobelt wird, fallen Späne." Eine Rechtfertigung der Verbrechen Stalins oder eine Aufrechnung gegen "seine Leistungen" mit positivem Resultat war in politischen Äußerungen akzeptierte Praxis. In Diskussionen mit der Basis, z.B. im Rahmen des FDJ-Studienjahres ? oder des Parteilehrjahres ?, endeten Konfrontationen spätestens mit der Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, d.h. etwa dem simplen Argument, dass Stalin "den Krieg gewonnen" hätte.
  2. Die Erwähnung der besonderen Bedingungen in der SU erlaubte es der SED, auf die "zivileren" DDR-Gegebenheiten zu verweisen. Die Säuberungen hatten hier nicht derart den Alltag beherrscht wie Stalins Großer Terror der 30er Jahre. Die je nach Quelle zwischen 8 und 25 Millionen Menschen schwankenden Opferzahlen in der SU hatten in der DDR keine auch nur annähernde Entsprechung.
  3. Die Konzentration auf die Person Stalins ließ das im Rückblick stalinistisch genannte System tendenziell zum persönlichen, gar lediglich "menschlichen" Makel eines Einzelnen werden. Im Vordergrund standen nicht Terror und Gulag ? - die SED benannte als Fehler vielmehr den Personenkult um Stalin. Dieser hätte den Stalinkult "zugelassen" oder "gefördert".

Mangels einer grundsätzlichen Stalinismus-Definition als zu bekämpfendem Irrweg und wegen des zögerlichen Eingestehens von Fehlern der Stalin-Ära war die Entstalinisierung ? in der DDR höchst inkonsequent. Sie wurde schnell wieder beendet; den ultimativen Schlussstrich zog das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Fortan wurde das Thema tabuisiert. Exponierte Stalin-Kritiker wie etwa Robert Havemann wurden ins Abseits gedrängt bzw. mit Publikationsverbot belegt.

Aufmerksame DDR-Bürger konnten an Nuancen der Auseinandersetzung mit den Fehlern der Stalinzeit in offiziellen Verlautbarungen aus dem Einflussbereich der SED (vgl. Hager) in den 70er/80er Jahren Anzeichen des sprichwörtlichen Tauwetters ? oder neuer politischer "Eiszeiten" ablesen. Nicht zufällig war es das Sputnik-Verbot 1988 nach Stalin-kritischen Artikeln, das die Bürger von der unverändert harten Linie der SED überzeugte. Viele nahmen das zum Anlass, die "nicht reformierbare" DDR zu verlassen. Tausende überlieferte Ausreiseanträge enthielten exakt diese Begründung.

Der Stalinismus begleitete somit die DDR von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende und bestimmte ihr Schicksal entscheidend. Gleichzeitig gehörte das Terrorsystem Stalins zu den größten Tabus der "offiziellen Öffentlichkeit", also in den von der SED und den ihr verbundenen Organisationen kontrollierten Medien, in Auseinandersetzungen zwischen SED-Mitgliedern und -Nichtmitgliedern sowie in der Geschichtsschreibung und gesellschaftswissenschaftlichen Publikationen.


2. Stalinismus-Definition aus historischer Sicht

Der Begriff Stalinismus erhielt seine heutige - wohl nicht endgültige - Bedeutung zunächst durch Zuschreibungen aus dem aus SED-Sicht damals "feindlichen Lager", also aus Kreisen der Opposition, durch Dissidenten ? wie Rudolf Bahro oder Rolf Henrich ?, durch die Geschichtsschreibung in der BRD und nicht zuletzt durch Berichte und literarische Werke von Regimekritikern aus der Sowjetunion. Ein Meilenstein war das in der SU nur im "Untergrund" verbreitete Buch Archipel Gulag ? von Alexander Solschenizyn ?.

Jedoch versprachen sich auch konservative und rechtsgerichtete Kräfte in der BRD stets politische Vorteile von der öffentlichen Verurteilung des Stalinismus. Das führte in den verschiedenen Phasen des Kalten Kriegs und nach der Wende und Wiedervereinigung sicher zu Verzerrungen der öffentlichen Wahrnehmung und zu Erschwernissen der Geschichtsforschung. Letztlich dürfte als überzogen empfundene Kritik an der vermeintlich oder tatsächlich "stalinistischen DDR" bei manchen ihrer ehemaligen Bürger Solidarisierungseffekte ausgelöst haben - ein möglicher Grund für die mitunter enormen PDS-Wahlergebnisse in den neuen Bundesländern nach 1990.

Der Begriff "Stalinismus" wurde mglw. erstmals von Trotzki ? verwendet, der von Stalin verfolgt wurde und schließlich einem Mord des NKWD zum Opfer fiel. Trotzki ? versuchte auch eine erste theoretische Darstellung. Danach sei Stalinismus der "Sieg der Bürokratie über die Massen" in einem "totalitär bürokratischen Staat" (siehe L. Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?, 1936). Spätere Vertreter des Marxismus, darunter Georg Lukacs ? (1970), legten verschiedene theoretische Untersuchungen vor, die jedoch mangels verfügbarer Fakten und wegen ihrer eigenen Nähe zu den ideologischen Ursprüngen des Stalinismus nur eingeschränkt aussagekräftig waren.

Jenseits politischer Partikularinteressen lassen sich als Merkmale bzw. typische Erscheinungen des Stalinismus festhalten:

  • Perfektionierung der "totalitären" Herrschaft (Anmerkung dazu s.u.) mittels Terrormaßnahmen unterschiedlichen Ausmaßes gegen die eigene Bevölkerung
  • Dogmatisierung und Schematisierung des Marxismus-Leninismus mit Reduzierung der Dialektik ? auf simple Gegensätzlichkeit
  • extreme Überbetonung der Rolle des Kollektivs gegenüber des Schicksals des Einzelnen bzw. Einzelner (Gruppen)
  • Ausschaltung von Resten demokratischer Entscheidungsfindung als Hemmnisse der totalen Herrschaft (s.u.)
  • radikale Befolgung vermeintlich "historischer", "wissenschaftlicher" oder sonstiger "Sachzwänge" zu Ungunsten von Menschen oder Verhältnissen, die dem "revolutionären Geschehen" hinderlich waren, bis hin zu deren physischer Vernichtung
  • ferner/ggf. Verselbstständigung von Teilen des Terrorapparats mit dem Resultat "nicht zielführender" Unterdrückung und mglw. Verherrlichung von Maßnahmen, Organisationen, Personen etc.

Verallgemeinernd kann man unter Stalinismus die unumschränkte Herrschaft einer (kommunistischen) Parteiführung verstehen (im Extremfall Stalins die Diktatur des Parteiführers), im Gegensatz zur durch Karl Marx, Engels und Lenin geforderten Diktatur des Proletariats.

Anmerkung:
Die "Totalitarismus-Doktrin" bzw. die Lehre von der totalen Herrschaft ist umstritten, da sie u.a. zur Relativierung des Nationalsozialismus missbraucht oder entsprechend missverstanden werden kann.


Betrachtet man die unumschränkte Herrschaft der SED-Führung mit der im Politbüro konzentrierten Macht über sämtliche Vorgänge im Lande als entscheidendes Kriterium, so muss man den Staat DDR sehr wohl stalinistisch nennen - zumal mangels Entstalinisierung ? die während Stalins Regentschaft geschaffenen Machtstrukturen in der DDR bis 1989 bestehen blieben.

Zu diesem Befund würde auch die vielfach belegte Beobachtung passen, dass praktisch alle Handlungen der Judikative (Gerichte), alle Festlegungen der Legislative (Gesetze der Volkskammer) und Vorhaben der Exekutive (Weisungen des Ministerrats) durch Eingreifen des Politbüros bzw. des Generalsekretärs übersprungen, geändert oder rückgängig gemacht werden konnten.

Man muss anmerken, dass diese Einschätzung einer erweiterten Stalinismus-Definition folgt. Die konkreten Auswirkungen des Stalinismus in der DDR bedeuteten Leid und Unterdrückung, vielfach Verfolgung und auch die physische Vernichtung von Menschen, die "dem Apparat" (d.h. der SED samt ihrem Machtinstrument MfS) als Störfaktoren erschienen und zu Feinden erklärt wurden. Dennoch erreichte der Terror nie die Ausmaße wie in der Sowjetunion, und der - offenkundig aus Selbsterhaltungstrieb - von der SED zum typischen Merkmal des Stalinismus bestimmte Personenkult wurde im Großen und Ganzen vermieden.

Eine abschließende historische Einordnung des Stalinismus bleibt damit jener Zukunft vorbehalten, wenn möglichst frei von politischen Augenblicksinteressen und Prägungen sowie hoffentlich unter Rückgriff auf noch verschlossene Archive in Ost und West über die Bedingungen, Ursachen, Auslöser und handelnden Personen befunden werden kann. In der kollektiven Erinnerung bedeutet "Stalinismus" derzeit überwiegend Entrechtung, Willkür und Terror - Unmenschlichkeit im Namen einer versprochenen menschlicheren Gesellschaft.


  • Zitat:
    • Die Partei ist mehr als du und ich ... Die Partei ist die Verkörperung der revolutionären Idee in der Geschichte. Die Geschichte kennt kein Schwanken und keine Rücksichtnahme. Sie fließt schwer und unbeirrbar auf ihr Ziel zu. An jeder Krümmung lagert sie Schutt und Schlamm und die Leichen der Ertrunkenen ab. Aber - sie kennt ihren Weg. Die Geschichte irrt sich nicht. Wer diesen unbedingten Glauben an die Partei nicht hat, gehört nicht in ihre Reihen.
(aus Arthur Koestlers Roman Sonnenfinsternis.)





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